Odessa

Verrückteste Stadt der Ukraine

Odessa – ein Sonderfall

Mythen, Lieder, ­boshafte Geschichten, Erzählungen, Anekdoten – über Odessa die Perle, die Schöne, die ­Besondere, wird alles Mögliche erzählt. Ob aus Neid oder Hochachtung und  Anerkennung, nahezu alles stimmt. Einmal Odessit, immer Odessit, sagen viele, die einmal weg waren und reumütig wiedergekommen sind. Denn in Odessa pulsiert das Leben stärker als anderswo und es geht legerer zu. So leger, dass dort am Schwarzen Meer auch schwarze Geschäfte gemacht werden. Schließlich sind wir in einer Hafenstadt. Da gehört das schon fast zum guten Ton – oder?  Manche sagen, Odessa sei eine schmutzige Judenstadt. Mag sein, aber trotzdem habe sie deren unübertrefflichen Humor übernommen, sagen die anderen. Natürlich stimmt es: Der Müll wird in offenen Containern neben der Straße deponiert. Aber er wird selbstverständlich auch täglich abgeholt. Natürlich sind die überbreiten Bürgersteige von Schlaglöchern übersät, ab und zu stürzt ein Haus ein, oder es fällt zufällig ein Auto in die Katakomben. Aber dafür ist der Muschelkalk, den man aus dem Untergrund geholt hat, ein echt gutes, klimaaktives Baumaterial. Natürlich gibt es in der Stadt- und in der Gebietsverwaltung Beamte, die nur für zusätzliches Geld wirklich arbeiten. Und wahrscheinlich stimmt es, dass alle Bürgermeister bisher in erster Linie in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Das Meer spült über all die Mauscheleien hinweg.

Ganz schön bunt

Odessa liegt in der Ukraine, ist aber gar nicht typisch ukrainisch. Mit ihren 133 offiziell in der Stadt registrierten Volksgruppen repräsentiert Odessa eher wie New York einen Querschnitt durch die Bevölkerung eines (ehemaligen) heterogenen Riesenreiches. Darum spricht man hier auch lieber Russisch als Ukrainisch. Eine russische Stadt ist sie deswegen trotzdem nicht, auch wenn die Zarin deutscher Herkunft, Katharina die Große, vor mehr als zweihundert Jahren den Auftrag zu ihrer Erbauung gegeben hat.

Hinterhofidylle

Odessa bröckelt an vielen Ecken und Enden, wird aber liebevoll konserviert, zerstückelt und immer neu zusammengesetzt. In den großen, mit alten Wein­stöcken bewachsenen und mit Wäsche voll gehängten Hinterhöfen herrscht das pralle Leben Odessas, auch mitten in der Nacht. Wer nach Odessa reist, erlebt eine neue Dimension. Odessa ist ein lebensfrohes Chaos. Schließlich strotzt diese Stadt nur so vor Humor und Vitalität. Es herrscht eine sympathische Anarchie. Odessa ist wirklich ein ­Aben­teuer, wenn auch ein überschaubares. Schließlich sind wir noch in Europa. Wer nach Odessa fährt, wird vom Beobachter zu einem Akteur im Abenteuer. Und das Bühnenbild dazu ist ja wirklich phantastisch. Das gibt es in kaum einer anderen Stadt. Einen Sommer in ­Odessa – das sollten Sie sich auf keinen Fall entgehen lassen. Denn wie gesagt: Odessa ist ein Sonderfall.

Groß und breit

Odessa hat die größte Oper der Ukraine und die längste und breiteste Treppe vom Hafen in die Stadt. Und was die Architektur angeht, unheimlich viele Stiltypen. Das Zentrum ist voll von ansprechenden Restaurants, Cafés und Biergärten unter freiem Himmel. Und Alkohol in kleinen Dosen sei gesund, auch in großer Menge, hat der odessitische Humorist Michail Schwanezkij gesagt.

Brigitte Schulze hat über 25 Jahre in der Ukraine gelebt und gearbeitet. Zuerst war sie Auslandskorrespondentin in Kiew, dann Beraterin für Medienpolitikis, ebenfalls in Kiew. In Odessa hat sie viele Jahre als Consultant für Kultur, Tourismus und Wirtschaftsförderung gewirkt. Sie reist immer wieder hin und macht ihre Erfahrungen anderen zugänglich. Ihre Reiselesebücher über die Ukraine, Kiew, Odessa, Lemberg und andere Orte sind wegen ihres persönlichen Tonfalls geschätzt und beliebt.